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Aprikosen sinken nicht

Noch heute genießt Petra den Chlorgeruch, der sich trotz des Shampoos hartnäckig in den Haaren hält. Eine ganze Bahn schwamm sie mit fünf Jahren das erste Mal und verbrachte daraufhin den Großteil ihrer Kindheit mit Schwimmbrillen auf den Augen. Obwohl Bad Dürrenberg eine kleine Stadt war, hatten auch dort die Kinder der DDR eine große Auswahl an sportlichen Aktivitäten: Petra hätte Schießen, Kanu fahren oder Gewichtheben lernen können; obwohl hier nie Schnee lag, hätte sie sogar Langlaufen können. Aber weil ihre Mutti sie als kleines Kind immer zu ihrem eigenen Schwimmunterricht mitgenommen hatte, landete sie im Chlorwasser. Auch als Petra ihre eigene Trainingsgruppe hatte, besuchten sie noch immer dieselbe Schwimmhalle in Leuna und so ergab es sich häufig, dass sie abends gemeinsam nach Hause fuhren. Dann trug ihre Mutti ihren Ranzen und sagte: „Der ist ja schwer. Was hast du denn eingepackt? Hast du Steine dabei?“ Je nachdem wie alt Petra war, kicherte sie daraufhin entweder und sagte „Nein, Mutti, das sind nur Bücher!“, oder sie verdrehte die Augen und sagte nichts. Erst später, als sie ihre Taschen selbst tragen musste, erkannte Petra die Geste ihrer Mutti als Zuneigungsbekundung. Und heute steckt sie meine zickigen Antworten genauso weg, wie ihre Mutti damals.
In den 70ern gingen alle Kinder nach der Schule zum Sport und wenn sich eine Klassenkamerad:in mit Musizieren die Nachmittage vertrieb, verstand niemand so wirklich, was sie denn eigentlich da tat. Seinerzeit war die DDR in internationalen Sportwettkämpfen sehr erfolgreich und hatte Interesse daran, dass das so bleiben wird. Deshalb hielten sie während der lokalen Wettkämpfe nach Kindern Ausschau, die besonders vielversprechende Leistungen erbrachten. Meine Mom war eines dieser Kinder.
Als sie gemeinsam mit ihrer Kollegin Susanne auf das Sichtungslager ins Stargarder Land fuhr, das über den Rest ihres Lebens entscheiden sollte, war Petra 9 Jahre alt. Aufgeregt und eingeschüchtert zugleich schwammen sie das erste Mal in einer professionellen Schwimmhalle - die hatte 50 Meter lange Bahnen und Zuschauer:innentribünen! Während sie in Technik, Kondition und Beweglichkeit geprüft wurden, freuten sie sich über jedes der wenigen Gesichter, das sie von irgendeinem Wettkampf kannten. Dass dies kein gewöhnliches Trainingslager war, hatten sie zuvor zwar gewusst, doch wirklich begreifen konnten sie es erst, als sie auch sportmedizinischen Checks unterzogen wurden und die Notizen, die sich die Trainer:innen am Beckenrand machten, nie zu Gesicht bekamen. Nur die Trainer:innen sahen die Ergebnisse, werteten aus, schätzten ein, entschieden und besprachen sich dann mit den Eltern der Hoffnungsträger:innen. Petra hatte zwar gewusst, dass sie ihre Eltern nur noch am Wochenende hätte sehen können, wenn sie dieses Sportinternat besuchen würde. Dass sie dazu auch bereit gewesen wäre, wurde ihr erst bewusst, als sie über die Absage nicht anders als traurig und enttäuscht sein konnte.
„So bleibst du bei uns, meine Kleine“, versuchten ihre Eltern sie zu trösten. Das Chlorwasser roch noch immer nach Sicherheit, Heimat und Alltag. Doch irgendetwas hatte sich verändert. Der Geruch von gebrochenen Erwartungen mischte sich darunter. Sie hatte Schwimmen so sehr geliebt, dass sie bereit gewesen war, sich mit der Welt zu teilen; sie war bereit gewesen, nicht mehr nur für sich selbst zu schwimmen, sondern auch für die DDR. Doch die sozialistische Einheitspartei hatte entschieden, sich nicht mit Petras Leistungen rühmen zu wollen und hatte sie zurückgewiesen, als sei sie es nicht wert gewesen, dass man an sie glaubte. Und dieses Kind fühlte sich durch seine naiven Hoffnungen entblößt und versuchte sich zu bedecken, indem es nicht mehr darüber sprach und weiterhin trainierte, als sei nichts gewesen. Sie fuhr noch immer viermal die Woche nach Leuna, schwamm auf Wettkämpfen und besuchte Trainingslager; bis ihr 7 Jahre später ein Unfall das Knie zertrümmerte.
Petras Kollegin Susanne erhielt eine Zusage und kehrte drei Jahre später mit definierten Muskelpaketen wieder zurück zum Verein; sie war nicht nur gut trainiert, sondern zu einer regelrechten Schwimmmaschine geworden, dachten sich die Hobbyschwimmer:innen irritiert. Böse Zungen zischten, dass die DDR deshalb so gut gewesen sei, weil sie ihre Leute dopte. Petra sagt, sie habe überhaupt keine Ahnung was in dieser Hinsicht vor sich ging, aber an Folgendes könne sie sich erinnern: Beim Mittagessen in der Mensa des Prüfungslagers konnte man erkennen, wer zu Gast war und wer das Internat besuchte. Denn die Kinder, die das Internat besuchten, hatten neben dem Teller noch eine weitere Schüssel auf dem Tablett: darin lagen Pillen, die sie täglich wie eine Beilage zu sich nahmen.
Ihr Leben lang dachte Petra, sie sei zu schlecht gewesen, um das Internat besuchen zu dürfen. Nach der Absage ärgerte sie sich noch viel mehr als sonst darüber, dass ihre schwachen Nerven sie vor Wettkämpfen häufig krank machten und sie manchmal wegen eines Fiebers nicht antreten konnte. Vielleicht war sie zwar nicht zu schlecht, aber zu schwach gewesen, dachte sie sich in Enttäuschung badend. Dass es weder an ihrer Leistung noch an ihren Nerven lag; das erfuhr sie erst ein halbes Jahrhundert Jahre später, als es die DDR nicht mehr gab und sie irgendwo in Westdeutschland am Fuße des Totenbetts ihrer Mutti Bettlaken bügelte.
Während Dorle todkrank war und meine Mom sie pflegte, verbrachten sie so viel Zeit miteinander, dass jene Nachwuchskadersichtung im Stargarder Land unbeabsichtigt ins Bewusstsein getrieben wurde. „Weil du nie auf internationale Wettkämpfe hättest gehen können. Deshalb haben wir uns damals gegen das Internat entschieden“, sagte Dorle. Petra bügelte und das Laken dampfte unter dem Bügeleisen, „weil ich zu schlecht war“, sagte sie resigniert. „Nein!“, rief Dorle entrüstet. „Weil es deinen Onkel Manfred gab!“ Langsam stellte Petra das Bügeleisen ab und setzte sich. Während ihr Kopf hastig versuchte die Puzzleteile zusammenzufügen, erfüllte ihr Herz zwar die Art der Befriedigung, wie man sie beim Einfügen eines letzten Puzzleteils erfuhr, musste jedoch zeitgleich die Fassungslosigkeit darüber herunterschlucken, um das Puzzle bisher nicht gewusst zu haben. Onkel Manfred hatte im Westen gewohnt. Der Bruder von Dorle hatte ihnen manchmal Pakete voller Kostbarkeiten geschickt: Lebensmittel, Kleidung und Postkarten von der Südsee. Manchmal war er sogar zu Besuch gekommen und hatte die aufregendsten Geschichten zu erzählen. Petra tätschelte betreten das Bein ihrer Mutti, während sie vor ihrem inneren Auge das vollständige Bild des Puzzles betrachtete.
Damals im Büro des Internats, als Petras Eltern den Trainer:innen gegenübersaßen und über das Leben ihrer Tochter entscheiden mussten, standen sie vor folgender Überlegung: Entweder traten sie der Partei bei und gewannen das Vertrauen durch parteitreues Engagement, oder sie hätten ihrer Verwandtschaft im Westen abschwören müssen. Denn der kleinste Anreiz, im Westen zu bleiben, genügte, um die DDR niemals verlassen zu können. Der Vater von Petra weigerte sich, in die SED einzutreten und Dorle wollte den Kontakt zu ihrem Bruder nicht ersticken. Damals, im Büro des Internats, entschieden sich Petras Eltern für den Kontakt mit ihren Verwandten und gegen die sportliche Karriere ihrer Tochter.
Drei Jahre nach der schicksalhaften Entscheidung ihrer Eltern verbrachte Petra ein weiteres Trainingslager im Stargarder Land. Dieses Mal durfte sie weder auf 50-Meter-Bahnen schwimmen noch auf Gummiböden sprinten. Jetzt waren sie in Baracken am Tollensesee untergebracht, mussten in dreckigem Seewasser schwimmen und anstatt sie zu federn, schluckte der Sandboden ihre Schritte. Dieses Mal war sie mit bekannten Gesichtern umgeben, trainierte auf übliche Weise und war weder aufgeregt noch eingeschüchtert. Hier würde sie ganze drei Wochen verbringen, dachte sie, und versuchte sich dem unangenehmen Gefühlscocktail aus Langeweile und Heimweh zu entwinden.
Für Petra waren Seen schon immer dreckig, undurchschaubar und suspekt. Geborgen fühlte sie sich von weißen Kacheln umgeben, von kalten Lichtern beleuchtet und um den Abstand zwischen zwei Beckenrändern wissend. Chlorgeruch hieß für sie Sicherheit, denn er versprach, dass sie nach 25 Metern eine Pause einlegen konnte. Aber seit dem Sichtungslager im Stargarder Land roch Chlor auch nach gebrochener Erwartung. Und so war der schlammige Geruch von Algen zwar unheimlich und fremd, aber in dieser Unsicherheit versteckte sich ungeahntes Potential der Emanzipation.
Bevor sie auf das Trainingslager am Tollensesee ging, sagte ihre Mutti zu ihr: „Pass auf, dass du nicht deine Tage bekommst“ und erzählte, wie sie ihre erste Periode im Ferienlager bekommen hatte. Die Angst, verletzt zu sein, hatte sie mitten in der Nacht gnadenlos aus dem Schlaf gerissen, als sie bemerkt hatte, dass ihr Bettlaken voller Blut gewesen war. Heimlich hatte sie versucht, das Blut auszuwaschen und verbrachte die restlichen Tage mit Scham und Ekel. „Pass auf, dass du nicht deine Tage bekommst“, sagte sie ihrer Tochter und versuchte damit Petra unbeholfen davor zu ersparen, ganz allein das Blut mit kaltem Wasser auswaschen zu müssen.
Sie bekam zwar nicht ihre erste Periode, aber ohne ihre Eltern drei Wochen lang weit weg von Zuhause zu sein, strapazierten Petras Nerven ebenso. Die emotionalen Turbulenzen der pubertierenden Grüppchenbildung wurden durch sportlichen Leistungsdruck ergänzt: Es zehrten ständige körperliche Belastungen an ihr, kombiniert mit der kognitiven Anstrengung, immer wieder über ihre eigenen Grenzen hinauszugehen; noch ein bisschen weiter; noch ein bisschen schneller; jetzt hatte sie eine Stunde Pause und danach fand man die nächste Grenze, die es zu knacken galt. Petra warf ein missgünstiges Auge auf die Kinder, die statt eines Trainingslagers, ein Ferienlager besuchten und ihre Zeit mit verspielten Nachtwanderungen verbringen durften; während die Schwimmer:innen jeden Tag um 7 aufstanden, um am Ufer entlangzurennen. Petra hasste laufen. Obwohl es Sommer war und sich der Körper durch die Bewegung schnell aufheizte, blieb die Nasenspitze in der nebligen Morgenluft immer kalt. Während der ersten 15 Minuten dachte sie sich zynisch, dass sie im Wasser schnell war, ob das denn nicht ausreiche? Danach langweilte sich ihre schlechte Laune an sich selbst und wurde zögerlich von der Faszination gegenüber der erwachenden Welt verdrängt. Ihr Blick beschäftigte sich mit den beruhigenden Wasserspiegelungen des Sees und ihre Nase konnte sich nicht länger dagegen wehren, wahrzunehmen, wie der Tau den anrollenden Tag in besonderer Frische duften ließ. Spätestens nach einer halben Stunde fühlte es sich an, als würde sie dem Tag entgegenrennen.
Jeden Morgen ging Petra voll vorsichtiger Vorfreude am Empfangshäuschen vorbei und fragte, ob Post für sie gekommen war. Und jeder Brief, den sie an ihre Familie schrieb, widmete sie ungeduldigen Nachfragen, ob der Aprikosenbaum schon Früchte trage; ob die Aprikosen denn schon reif seien; dass sie so neidisch sei, keine Aprikosen essen zu können; ob sie denn schon reif seien. Eines Morgens, als sie am Empfangshäuschen fragte, ob Post für sie gekommen war, wurde ihr ein Schuhkarton in die Hände gedrückt. Darauf war mit Dorles schwungvoller Handschrift Petras Name geschrieben und mit dem Spitznamen „meine Kleine“ versehen. Behutsam legte sie den Karton auf ihr Bett und verbrachte diesen Trainingstag damit, sich auf das Päckchen zu freuen.
Nachdem alle gemeinsam geduscht und sich in die warme Freizeitkleidung gekuschelt hatten, kniete sich Petra ehrfürchtig vor das Päckchen ihrer Mutti. Wie bei den Paketen von Onkel Manfred wusste sie: da würde etwas ganz Besonderes drin sein. Vorsichtig löste sie das Klebeband an den Seiten, um den Karton nicht zu beschädigen. Den würde sie wiederverwenden, so wie sie von ihren Eltern gelernt hatte. Als sie den Deckel hob und sich durch mehrere Schichten Stoff gegraben hatte, sah sie sich zehn Händen voll Aprikosen gegenüber. Ein freudiges „Ohhh!“ ging durch die Reihen der Schaulustigen. Niemand fragte, ob sie eine Aprikose haben durfte. Alle wussten, sie würden warten und die Früchte festlich verspeisen. Sie trugen den Karton voller Aprikosen an das Lagerfeuer, das ihr Trainer abends neben dem Bootssteg entzündete. Petra durfte immer wieder stolz den Deckel des Kartons heben, damit die anderen einen Blick auf die Leckerbissen erhaschen konnten. Erst als die Sonne untergegangen war und sich die Kinder um das Lagerfeuer versammelt hatten, rückte Petra mit den Aprikosen raus. Das süße Fruchtfleisch verteilte sich in ihrem Mund, so wie das wohlige Gefühl der Heimat in ihrem Bauch.
Bad Dürrenberg war eine Kleinstadt neben Leuna und die Wohnung, in der sie groß geworden war, lag im Industriegebiet, sodass sie nur die Schrebergärten als kleine, grüne Oasen kannte. In dem Garten, den Petras Eltern von ihrer Großmutti geerbt hatten, stand der Aprikosenbaum und blühte jedes Jahr aufs Neue und trug kleine orangefarbige Köstlichkeiten. Verlässlich blühte der Aprikosenbaum, seit Petra denken konnte. Wenn alles schieflaufen würde, dachte sie, dann würde dieser Baum noch immer seine Blüten und Früchte mit uns teilen. Heute stehen in Petras eigenem Garten knorrige Apfelbäume, die sie jedes Jahr fleißig erntet und zu Apfelsaft verarbeitet. Zu meinem Geburtstag schickt sie mir dann kiloschwere Pakete mit Apfelsaft, um mir so viel Heimat zu geben, wie es der Postweg eben zulässt.
Dorle hatte die Angewohnheit, die Hand ihrer Tochter mit ihren eigenen sanft zu umschließen und dann mit der oberen liebevoll zu tätscheln. Mit diesen regelmäßigen, sanften Berührungen, sagte sie ihr: Ich bin bei dir und freue mich, dass es dich gibt. Hier in dem Trainingslager am Tollensesee wurde Petra von niemandem getätschelt. Alles, was sie berührte, war dreckiges Seewasser und die korrigierenden Handgriffe ihres Trainers. Heimweh stichelte ihren Bauch, wenn sie genau dieSicherheit brauchte, die ihr das Tätscheln ihrer Mutti immer gegeben hatte. Doch ihr Bauch wollte nicht gestichelt werden und machte sich auf die Suche nach einem anderen Ort, von dem er diese kraftgebende Sicherheit schöpfen konnte.
Das Trainingslager am Tollensesee war das prägende Ereignis, durch das sie jene vertrauensvolle Beziehung zur Natur entdeckten sollte, die sie ihr Leben lang pflegen würde. Petra begann barfuß durch den Wald zu laufen und ihr fiel der sandige Boden unter ihren Zehen auf; sie setzte sich auf abgebrochene Baumstümpfe, erst zögerlich und dann mit steigender Vorfreude; sie begann den Vögeln zuzuhören und achtete immer öfter darauf, wie lange der Nebel morgens brauchte, um den See zu entblößen und abends, um ihn wieder zuzudecken. Obwohl Petra vor dem Gefühl der Einsamkeit floh, genoss sie es hier allein zu sein. Im Trainingslager musste sie entweder auf die anderen Kinder oder die eigenen Körperbewegungen achten. Dagegen lud die Natur sie unaufdringlich ein, bei ihr nackt und ehrlich zu sein und bettete ihr ein Zuhause aus Laub. Hier war man allein, ohne einsam zu sein.
Im Trainingslager am Tollensesee konnte Petra sich weder an kalte Kacheln noch an die tätschelnden Hände ihrer Eltern schmiegen und suchte nach anderen Wegen, sich geborgen zu fühlen. Vermutlich war die Natur schon immer ein Ort gewesen, aus dem Petra Kraft schöpfen konnte; nur war die einzige Natur, die sie bis dahin gekannt hatte, der Aprikosenbaum im Garten ihrer Mutti.

Meine Mom tätschelt meine Hand,
während sie mir all das erzählt und ich hoffe,
dass ihr mein ruhiges Zuhören sagt:

Ich bin bei dir und freue mich, dass es dich gibt.

Wir treiben in einem Paddelboot auf dem Tollensesee
und werden vom abendlichen Nebel langsam zugedeckt,
während Petra einen Apfel in kleine Schnitze schneidet.